FISCHER, Jörg W.: ERP, PLM, MES und CRM – Teil 2 – ein Blick in die Zukunft
In: ERP Management,
Berlin, (2023)3, S. 16-21.
(ISSN 1860-6725)
In Teil 1 dieses Artikels wurde der Wandel der Stellung des ERP in Unternehmen erläutert. Ein Grund für diesen Wandel ist die Erkenntnis, dass die Änderungsdynamik aller Stammdaten zugenommen hat, sodass deren Lifecycle Management in den Fokus rückt. ERP, als bisher dominierendes IT-System in Unternehmen, gerät bzgl. seiner Vormachtstellung unter Druck.
In Teil 2 des Artikels wird auf Basis dieser Argumentation die zukünftige Stellung von MES im Kontext PLM und ERP erläutert, um dann aus methodischen Überlegungen heraus auf zukünftige IT-Systemabdeckungen von Unternehmen zu blicken.
Die MBOM als Tor zum MES
Ein vieldiskutiertes Thema in der Industrie ist die Stellung von Manufacturing Execution System (MES) zu ERP und PLM.
Bild 1: Veränderung der Automatisierungspyramide
Bisher ist es üblich, MES von ERP aus mit den notwendigen Informationen zu versorgen (Bild 1, frühere Sicht). Außer den Fertigungsaufträgen aus dem ERP ist zur Erfüllung der Aufgaben des MES ein Grundgerippe an Stammdaten notwendig. Das Fundament ist die MBOM. Davon ausgehend, dass zukünftig Stammdaten und damit auch die MBOM in einem Lifecycle Management System entstehen (siehe Teil 1 des Artikels) und fortentwickelt werden, stellt sich die Frage, warum MES nicht von dort direkt mit den notwendigen Stammdaten versorgt wird.
Diese Diskussion wird aktuell in vielen Unternehmen intensiv geführt. Sie wurde ermöglicht, da viele PLM-Systeme die notwendige Funktionalität zur Modellierung von MBOM‘s inzwischen implementiert haben.
Warum PLM sich anschickt, ERP von der Spitze der Automatisierungspyramide zu verdrängen?
Wenn die MBOM zukünftig im PLM entsteht, dann muss sie sowohl ins ERP als auch ins MES versorgt werden. Ohne MBOM im ERP kein MRP-Lauf. In der Folge wird oft argumentiert, dass es unabhängig von der MBOM Entstehung viel einfacher wäre, die MBOM weiterhin vom ERP ins MES zu übertragen. Das ist eine valide Ansicht.
An dieser Stelle zeigt sich der zweite blinde Fleck der klassischen ERP zentrischen Sichtweise. Er wird beim genaueren Abgrenzen von ERP und MES deutlich sichtbar. Im MES werden wie im ERP Abläufe geplant, initiiert und deren Erledigung dokumentiert. MES unterscheidet sich u. A. in den nachfolgenden Punkten vom ERP.
- MES bildet Abläufe und Zeithorizonte viel feingranularer ab
- MES ist flexibler, eine einfache Umplanung von Abläufen ist gut möglich
- MES hat ein technologisches und kein kaufmännisches Informationsmodell
Für die verfolgte Argumentationskette ist der Punkt 3 wesentlich. Statt aus kaufmännischer Sicht, wie ERP, blickt MES aus technologieorientierter Sicht auf Informationen und Abläufe in Unternehmen. Dies kristallisiert sich im Rahmen der zunehmenden Digitalisierung inzwischen klar heraus. Da PLM, wie MES, ein technologisches Informationsmodell implementiert, schickt sich PLM an, ERP von der Spitze der Automatisierungspyramide zu verdrängen.
Zweiter blinder Fleck – kaufmännischen Modelle im ERP reichen aus
Die ursprüngliche Annahme der ERP zentrischen Sichtweise, dass ein kaufmännisch ausgelegtes Informationsmodell hinreichend für technologische Aspekte sei, kann zukünftig so nicht aufrechterhalten werden.
Bild 2: Technologische vs. Kaufmännische Informationsmodelle
Der Schlüssel zum Durchdringen dieses Aspekts ist Semasiologie, die Lehre der Wortbedeutung. Menschen nehmen an, dass Dinge dasselbe bedeuten, wenn dieselben Worte genutzt werden. Diese Annahme funktioniert im Alltagsgeschehen, bei der Aufgabe Informationsmodelle unterschiedlicher IT-Systemklassen (ERP, PLM, MES) zusammenzuführen, scheitert sie jedoch.
In Bild 2 ist dies beispielhaft dargestellt. Bild 1 (Detail A) zeigt ein Montagesystem bestehend aus drei Ressourcen. Bild 2 Detail (B) zeigt dessen Abbildung aus kaufmännischer Sicht. In Bild 2 (C) ist die technologische Sicht dargestellt. Beiden Modellen haben ein gleich benanntes Objekt, die Ressource. Semasiologisch jedoch haben die Objekte eine ganz unterschiedliche Bedeutung.
Technologische Informationsmodelle sind keine Verfeinerung der kaufmännischen Modelle
Technologische Modelle sind keine Verfeinerung der kaufmännischen Modelle. Dies lässt sich am Beispiel einer Ressourcengruppe gut zeigen. In der kaufmännischen Sicht werden Ressourcengruppen u. A. aufgrund eines gemeinsamen Kostensatzes gebildet. In der technologischen Sicht werden Ressourcen aufgrund vergleichbarer technischer Fähigkeiten gruppiert. Dies wird an der aktuellen Diskussion um Feinplanung und Advanced Planning and Scheduling (APS) Systeme deutlich. Für die Feinplanung gibt es traditionell Lösungen in ERP-Systemen. Diese haben sich aufgrund der oben geschilderten Zusammenhänge jedoch nie wirklich etabliert.
Low Code ist nicht die Antwort.
Wird die technologische Sicht in ein kaufmännisch geprägtes Informationsmodell gezwängt, ist dies i.d.R. an der hohen Anzahl von umlaufenden Excel-Tabellen erkennbar. Diese geben dann dem technologischen Prozess den Raum, den er braucht. Die Argumentation, dass Low Code Systeme dauerhaft Excels ersetzen könnten, ist an dieser Stelle nicht richtig. Dort wo grundlegende technologische Informationsmodelle fehlen, werden diese nicht durch Einsatz von Low Code wie von selbst entstehen.
Die Vorrangstellung von ERP in Unternehmen gerät unter Druck.
Vor beschriebenem Hintergrund kommt die Vorrangstellung, die ERP-Systeme in Unternehmen bisher einnehmen, unter immer höheren Druck. In einigen Unternehmen wird bereits diskutiert, ERP-Systeme lediglich auf ihre Kernfunktionen, also das Verfolgen von Mengen und Werteflüssen zurückzubauen und auf eine vollständig separate Bebauung der technologischen Kette zu setzen.
Sind heutige PLM-Systeme geeignet, die zukünftigen technologischen und kaufmännischen Stammdatenmodelle zu tragen?
Die skizzierte Argumentation wird inzwischen auch oft von etablierten PLM-Vendoren in Vertriebssituationen aufgegriffen. PLM-Systeme werden dann dargestellt, als ob sie das Lebenszyklusmanagement aller Stammdaten, d.h. der technologischen und der kaufmännischen bereits heute abbilden könnten. Hier muss konstatiert werden, dass Informationsmodelle, Funktionsumfang und Flexibilität der meisten heute verfügbaren PLM-Systeme bei weitem nicht ausreichen, um diese Aufgaben zu erfüllen. Ob sie aufgrund des oft sehr spezifischen Designs ihrer Informationsmodelle überhaupt geeignet für diese Aufgabe sind, muss sich zeigen.
xLM ≠ PLM – Digital Information Architecture – das unentdeckte Land
Es ist demnach zu erwarten, dass sich eine neue Schicht oberhalb der Abwicklungssysteme (ERP, MES …) herausbildet. Aufgabe dieser Schicht ist es, den Lebenszyklus aller Stammdaten zu handhaben. Zudem muss sie in der Lage sein, kaufmännische und technologische Informationsmodelle abzubilden und geeignet zu vereinen. Stammdaten sind lediglich Ergebnis komplexer Entstehungsprozesse. Die neue Schicht muss daher auch die notwendigen Informationsmodelle für diese Aufgabe tragen können. Die Tendenz zu smarteren Produkten, die sich in konvergierende Szenarien integrieren (Konzept Systems of Systems) schafft dabei eine Reihe besonders herausfordernder Use Cases (Stichwort: Model Based Systems Engineering MBSE).
Als Name für diese Schicht wäre Digital Information Architecture oder x-Lifecycle Management (xLM) geeignet, wobei x als Variable für einen jeweiligen Buchstaben (z.B. P, A, C ….) steht, je nachdem welche Facette der Schicht betrachtet wird.
Bild 3: Die zukünftige Stellung der großen Systemklassen
In Bild 3 ist die gesamtheitliche Architektur einer möglichen zukünftigen Situation dargestellt. In dieser ist die Entstehung und das Lebenszyklusmanagement (xLM) der Informationen von der Nutzung dieser in den Abwicklungssystemen getrennt. Die xLM-Schicht versorgt die Abwicklungssysteme mit den notwendigen, versions- und zeitrichtigen Stammdaten.
Bild 3.5: xLM-Komponenten
Die xLM Schicht ist heute noch unentdecktes Land. Sie ist noch nicht implementiert! Heutige PLM, ALM und PIM Systeme sind lediglich erste explizit sichtbare Facetten dieser neu entstehenden Schicht. Bei der neuen xLM Schicht wird es sich erwartungsgemäß nicht um ein klassisches monolithisches IT-System handeln. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich zur Implementierung dieser Schicht zukünftig unterschiedliche, verteilte, auf microservicesbasierte Lösungsansätze herausbilden werden.
Bild 4: Digital Information Architecture und IDSL Ebene
Digital Information Architecture ≠ Analytics, Data Mesh oder Digital Core
In einigen Industriediskussionen wird das Thema xLM bereits aufgegriffen. In diesem Zusammenhang fallen oft auch Begriffe wie Digital Core, Data Mesh, Data Lake und Knowledge Graph etc. Hier werden häufig ganz unterschiedliche Themenstellungen vermengt. Dies liegt daran, dass zeitgleich zur xLM Schicht eine weitere Schicht entsteht. Diese kann als Industrial Data Science Layer (IDSL, Bild 4) bezeichnet werden. Ihre Aufgabe ist es, die Plattform bzw. Komponenten bereitzustellen und ganz neue Zusammenhänge, Erkenntnisse und Werte aus den Datenschätzen von Unternehmen zu generieren. Für den IDSL-Layer werden unterschiedliche Technologien (Knowledge Graph, Graphdatenbanken) und Architekturparadigmen wie Data Mesh und Data Lake diskutiert. Modethemen wie Process-, Product- und Portfoliomining sind lediglich die ersten Vorboten der neuen IDLS Schicht. Konsequent weitergedacht entsteht eine neue intelligente Steuerungsschicht für Unternehmen.
Disruption macht keine Ausnahmen!
Der geführten Argumentation folgend wird der Abdeckungsbereich von ERP in Unternehmen deutlich schrumpfen. Dafür tun sich ganz neue, faszinierende Räume auf.
ERP-Vendoren, die sich in dieser Situation auf ihre Kernkompetenz das ERP zurückziehen und anderen das Feld überlassen, gehen ein enormes Risiko ein.
Disruption wird keine Ausnahmen machen! Auch nicht vor großen Playern.
ERP erlangte in der Vergangenheit seine herausragende Bedeutung, weil es führenden Vendoren gelang, mit ihren Ideen, Methoden und deren technologischen Umsetzung den Standard der heutig gültigen betriebswirtschaftlichen Sicht auf Unternehmen zu setzen.
Demnach ist zu erwarten, dass zukünftig die Vendoren besonderen Erfolg haben werden, denen es gelingt eine neue, bahnbrechende und gesamtheitliche Sichtweise auf Unternehmen zu formulieren und diese als den zukünftigen Standard zu etablieren. Dies und nichts weniger sollte der Anspruch der großen ERP-Vendoren sein!
Noch ist Zeit.
2 Antworten
Does Manufacturing Bill of Material (MBOM) correspond to Domain Model in semantic modeling approach?
you could put it more or less like this. the mbom (also pbom or mrpbom) is a structure that serves as the basis for the MRP run in the ERP system. in terms of graph theory, such a structure is a root tree. If you now see production planning and control (PPC) as a domain, you could say that the MBOM is a semantic model of the PPC domain.